Gemeinsam mit meinem Kollegen Sven Kohlmeier habe ich in den vergangenen Tagen einen längeren Beitrag zur aktuellen Lage der SPD in Berlin und darüber hinaus verfasst. In seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender gab Willy Brandt der SPD mit auf den Weg, dass sie stets “auf der Höhe der Zeit” zu sein habe, wenn sie erfolgreich bleiben will.
Heute stellen wir fest: wir sind es derzeit nicht. Es stimmt organisatorisch an vielen Stellen nicht, es fehlt an politischer Klarheit, an überzeugenden Persönlichkeiten und vor allem an einer Sprache, die viele verstehen.
Unser Papier hat nicht den Anspruch, alle Frage zu beantworten. Es soll aber die Diskussionen anregen und beleben, die wir derzeit vielerorts in der Partei führen und für die wir uns Zeit nehmen müssen. Zeit, die SPD zu verändern ohne dabei zu vergessen, dass die Menschen von uns in Berlin auch endlich eine solide Regierungspolitik erwarten.
Über Eure Anregungen und Kommentare – über die Webseite oder unsere Profile in den sozialen Netzwerken – freuen wir uns!
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Nicht mehr auf der Höhe der Zeit_final
Nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Warum die SPD sich ändern muss, wenn sie überleben will.
Debattenbeitrag von Dennis Buchner und Sven Kohlmeier
Über die letzten vier Jahrzehnte schienen politische Erfolge und Misserfolge sich abzuwechseln. Schnitt die SPD im Bund schlecht ab, dann wurden stattdessen Landtagswahlen gewonnen. Und wenn man dann im Bund wieder regierte, schnitt man in den Ländern schlechter ab. Die Faustformel für Wahlerfolge der SPD schien recht klar: gelingt es, die Kernkompetenz auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit zu haben und gleichzeitig auch bei der Wirtschaftskompetenz gut abzuschneiden, dann werden Wahlen gewonnen. Ein Kandidat, bislang seltener eine Kandidatin, der oder die dabei sympathisch, kompetent und glaubwürdig rüberkommt, kann beim Wahlen gewinnen auch nicht schaden.
Was wir in den letzten Jahren europaweit erleben, rüttelt allerdings an manchen Grundfesten. Heute kann niemand mehr sicher sein, auch 2050 noch eine starke SPD in Deutschland zu finden, ja nicht einmal auf kürzere Zeiträume scheint dies absehbar. Ein Blick über die Staatsgrenzen hinaus zeigt dies eindrucksvoll. In Spanien, Griechenland oder Portugal sind die sozialdemokratischen Schwesterparteien von linker Konkurrenz teils marginalisiert worden. In Frankreich oder Kanada haben liberale Parteien oder Bewegungen den Sozialdemokraten das Wasser abgegraben. Unsere niederländische Schwester PvdA ist von 29,0% (1998) über 24,8% (2012) bei 5,7% (2017) angekommen. In Osteuropa ist die Sozialdemokratie nie wirklich auf die Beine gekommen und vor einigen Tagen auch in Tschechien marginalisiert worden. Und die derzeit erfreulichen Umfragewerte für Labour in Großbritannien können auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in diesem Mehrheitswahlrecht seit vier Dekaden – mit der kurzen Ausnahme Blair/Brown – die Konservativen an der Macht sind.
Der Blick auf Deutschland seit dem Ende der Schröder-Regierung gibt weiteren Anlass zur Beunruhigung. Gewann die SPD noch 2002 und 2005 alle Wahlkreise in den ostdeutschen Flächenländern, so war es 2013 und 2017 nur noch jeweils einer. Ob bei Bundestags- oder Landtagswahlen: nach Sachsen und Thüringen weisen die Wahlergebnisse auch in Sachsen-Anhalt eher auf den Status einer Sekte als einer Volkspartei hin. In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg konnten Landtagswahlen noch gewonnen werden – dank starker Spitzenkandidaten bei schlechterem Angebot der Opposition – die Bundestagsergebnisse sprechen leider eine andere Sprache.
In den großen westdeutschen Flächenländern Bayern und Baden-Württemberg ist schon die Marke von 20% in weite Ferne gerückt. Dass im Ruhrgebiet über die letzten zwanzig Jahre Millionen Wählerinnen und Wähler verloren wurden – verstorben, vergrault, vergessen – kommt im Land selbst zwar langsam an, im Bund hat dies noch keiner zur Kenntnis genommen, schließlich sind die Wahlkreise dort – wie die meisten Personenwahlen – immer noch eine sichere Bank. Nur langsam bemerkt man, dass man nur noch zehn und nicht mehr vierzig Prozent Vorsprung hat und dass die SPD mit zwei bis drei Millionen fehlenden Stimmen im Ruhrgebiet schlicht nicht mehrheitsfähig ist. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Teile Niedersachsens, der Norden Hessens und die Städte Hamburg und Bremen – vor allem letztere mit ähnlichen Problemen wie an der Ruhr – noch als Stammland bezeichnet werden können.
Eine starke SPD muss aber ein Zusammenschluss engagierter Freiwilliger sein, dabei die gesamte Gesellschaft abbilden, an der Spitze sozialer Bewegungen stehen und ihre Mitglieder bestmöglich – durch politische Bildungsarbeit – auf die Übernahme von Verantwortung vorbereiten. Nur dann wird sie sich nicht überleben.
Politik wird längst als abgeschlossene Kaste wahrgenommen
Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen tat 2015 etwas Bemerkenswertes. Er gewann für die SPD eine Landtagswahl mit deutlichem Vorsprung und trat dennoch zurück und übernahm als Regierungschef die Verantwortung für Verluste von rund fünf Prozent. In den Achtzigern gab es mit Klaus Wedemeier, ebenfalls Bremen und Henning Voscherau, Hamburg, ähnliche Beispiele. Gewählt, aber unterhalb der eigenen Schmerzgrenze geblieben und deswegen Abgang. Heute offenbar nicht mehr üblich. Stattdessen werden nach Wahlniederlagen die Verluste der anderen Parteien genüsslich analysiert, eigene Verluste werden schöngeredet oder verharmlost, alles wird kurz durch-geschüttelt, Posten getauscht und dann steht die Combo wieder gemeinsam auf der Bühne, um mit hängenden Mundwinkeln weitere Niederlagen entgegen zu nehmen. Jede und jeder verdient eine zweite Chance. Aber nicht die dritte und vierte – und erst recht dann nicht, wenn zu viele eigene Fehler gemacht werden.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller ist dafür leider ein gutes Beispiel. Als Senator war er maßgeblich für den verlorenen Volksentscheid Tempelhof verantwortlich, genoss dennoch die Solidarität der Partei und wurde schließlich von den Mitgliedern zum designierten Nachfolger Klaus Wowereits gewählt. Unmittelbar vor der Wahl 2016 erpresste Müller die Berliner SPD, um sich den Parteivorsitz zurückzuholen, aus dem er 2012 abgewählt worden war. Die komplett auf Müller zugeschnittene Kampagne endete mit Verlusten von etwa sieben Prozent. Ein Jahr nach den Berliner Wahlen wurden unter Müllers Verantwortung auch der Volksentscheid Tegel und die Bundestagswahlen (mit Verlusten deutlich über dem Bundesschnitt) verloren. Müllers Reaktion: mit dem Sitz Berlins im Parteivorstand einen weiteren Posten selbst zu übernehmen. Das Motiv dafür: keine andere und kein anderer soll ihn haben.
Politische Verantwortung übernehmen, muss übrigens nicht heißen, komplett aus der Politik zu verschwinden. Die Wahrnehmung eines Mandats im Landtag oder Bundestag ist aller Ehren wert. Und es muss entsprechend akzeptiert sein, dort auch wieder Platz zu nehmen, wenn andere Bemühungen erfolglos bleiben. Hannelore Kraft hat ohne Zögern am Wahlabend die Konsequenzen gezogen und ihre Spitzenfunktionen niedergelegt. Zu Recht aber nimmt sie ihr errungenes Direktmandat im Düsseldorfer Landtag wahr.
Wie abgeschlossen die politische Kaste innerhalb der SPD ist, bemerkt man übrigens schnell, wenn man sich fragt, wer wann „neu“ dazu gekommen ist. Auf Bundesebene war das Ende der neunziger Jahre Andrea Nahles und zum Ende der nuller Jahre Manuela Schwesig. Ein neues Gesicht pro Jahrzehnt, das ist einfach zu wenig.
Trennung von Spitzenfunktionen
Ob die Grünen insgesamt als ein organisationspolitisches Vorbild taugen, ist sicherlich zweifelhaft. Die Trennung von Spitzenämtern in der Partei und Regierungsverantwortung allerdings trägt auch zu einem stärkeren Austausch des Personals bei. Auf lokaler Ebene scheint die Trennung in der SPD kaum machbar, auf Landes- und Bundesebene aber wäre es wünschenswert, Vorsitzende zu haben, die sich um die Partei kümmern, sie lebendig und debattenstark halten und sich ggf. auch für die spätere Übernahme von Regierungsverantwortung empfehlen. In unserer Partei ist das Halten des (ehrenamtlichen) Parteiamts leider zu oft die Absicherung des hauptamtlichen Regierungsamts. Die Grünen und die Linken zahlen übrigens auch eine angemessene Aufwandsentschädigung für ihre Vorsitzenden.
Listenplätze für Neue
Es ist nichts daran ehrenrührig, gute Arbeit in Parlamenten auch mit guten Listenplätzen zu honorieren. Aber es ist ein massives Problem für neue, dann auf die Listen zu kommen. Wenigstens jeden vierten oder fünften Listenplatz für eine oder einen Neuen zu reservieren, das wäre ein gutes Zeichen für die Erneuerung der Partei. Es gäbe auch einen anderen Weg der Erneuerung: Der Begrenzung von Amtszeiten als Minister oder in Parlamenten. Wer 20 Jahre in einem Parlament gedient hat, ist kaum freiwillig zu bewegen, seinen warmen Parlamentssitz an einen neuen oder jüngeren Kandidaten zu übergeben. Und wer sich zu lange an ein Senatoren- oder Ministeramt klammert, idealerweise als Universalgenie in unterschiedlichen Fachressorts, bringt nicht mehr die Visionen hervor, die eine Metropole wie z.B. Berlin verdient.
Mehr Vielfalt in den Vorständen
Der Bundesvorstand der SPD setzt sich im Wesentlichen zusammen aus Spitzenfunktionären mit höchsten Regierungsämtern in Bund und Ländern und Abgeordneten aus den Bundesländern. Das ergibt sich auch aus der Natur der Sache: welche normale Arbeitnehmerin oder welche normale Arbeitnehmer kann es sich erlauben, zweimal im Monat einen Montag für eine Berlinreise zu opfern? Versucht haben das einige, selten ging das gut. Was heute im Bundesvorstand wesentlich fehlt, ist die kommunale Ebene. Erstaunlich, denn in den Städten und Kommunen ist die Partei immer wieder für herausragende Ergebnisse gut. Selbst in vielen darbenden Ostlandesverbänden sind es sozial-demokratische Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister, die das Vertrauen gewinnen. Bärbel Dieckmann, damalige Bonner OB, durfte von 2005 bis 2007 als stellvertretende Parteivorsitzende amtieren, nach und nach schieden auch Chemnitz OB Barbara Ludwig, Baunatals Bürgermeister Manfred Schaub und Nürnbergs OB Ulrich Maly aus dem Vorstand aus. Die erfolgreiche kommunale Ebene findet im Führungsgremium (jenseits der drei Stadtstaaten) nicht statt.
Der Parteivorstand muss aber ein Ort des Austausches unterschiedlicher Lebenswelten und Erfahrungen sein. Deshalb müssen dort alle politischen Ebenen vertreten sein, ergänzt durch Mitglieder, die (noch) nicht beruflich in der Politik tätig sind.
Die Defizite in der Organisation
In den vergangenen fünfzig Jahren hat sich die SPD mehrfach auf den Weg gemacht, organisatorische Defizite aufzuarbeiten und sich zu verändern. Äußerer Anlass dafür waren vor allem die Verluste in der Mitgliedschaft, ist doch die Mitgliederzahl in den letzten 40 Jahren von mehr als einer Million auf etwa 440.000 gesunken, verbunden mit einem Anstieg des Durchschnittsalters auf über 60 Jahre. Jenseits der Großstädte, vor allem der Universitätsstädte, kann die SPD kaum noch auf kampagnenfähige Strukturen zurückgreifen. Dabei fehlen insbesondere die mittleren Altersgruppen. Gerade in den Wahlkämpfen ist die SPD mehr denn je auf die Jusos und die über AG 60plus angewiesen, die allerdings faktisch eher eine AG 70plus ist, sind doch die gut Sechzigjährigen ganz wesentlich noch in den Funktionen und Mandaten der Partei unterwegs.
Zu den häufigen Irrtümern der Partei zählt leider, dass es bereits ausreichen würde, die Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitglieder zu verbessern, um der mangelnden Bereitschaft zum Beitritt und aktivem Engagement etwas entgegen zu setzen. „SPD 2000“, verabschiedet unter dem damaligen Bundesgeschäftsführer Blessing, hieß das Konzept, mit dem Mitgliederbegehren, Mitgliederentscheide (letztlich auch Befragungen von oben) eingeführt wurden. Zu Beitrittsstürmen haben verbesserte Partizipationsmöglichkeiten bekanntlich nicht geführt. Genutzt werden die Instrumente seit mehr als zwanzig Jahren im Übrigen vor allem dann, wenn sich die in der Partei und den Ortsvereinen regelmäßig Mitwirkenden nicht einig werden. Der Landesverband Berlin hat seine Mitglieder inzwischen dreimal über Spitzenkandidaturen entscheiden lassen. 1995 Ingrid Stahmer, 1999 Walter Momper und 2014 Michael Müller besiegten dabei zwar ihre innerparteilichen Kontrahenten, doch die anschließenden Wahlergebnisse waren die drei schlechtesten der Berliner SPD überhaupt. Die drei Wahlen dazwischen wurden dagegen mit Klaus Wowereit gewonnen, dem Kandidaten, den das „Partei-Establishment“ aufs Schild gehoben hatte. Und auch die bundesweite Anwendung, die 1993 Rudolf Scharping in die Rolle des Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten brachte, darf als gescheitert angesehen werden. Scharping wurde nur zwei Jahre nach dem Mitgliederentscheid ganz konventiell auf einem Parteitag wieder gestürzt.
Auf lokaler Ebene wird das Instrument des Mitgliederentscheids bei Personalentscheidungen noch abstruser. Den nicht in der Partei aktiven Mitgliedern zweiseitige Kandidatenvorstellungen zu übersenden auf deren Grundlage sie dann per Brief darüber entscheiden sollen, wer die örtliche Partei führt oder bei Wahlen ins Rennen gehen soll führt am Ende nicht zu besseren Ergebnissen, sondern zu mehr Frustration bei denen, die potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten im Rahmen der regelmäßigen Parteiarbeit kennenlernen und sich ein eigenes Bild machen. Es ist richtig, das Delegiertenprinzip wo immer es geht durch ein Vollversammlungsprinzip zu ersetzen. Briefwahl und die Flucht in Mitgliederbefragungen aber – also Politik ohne noch Hinzugehen – würde ein weiteres Sterben der Mitgliederpartei bedeuten.
Tatsächlich wäre es richtig, alle Mitglieder tatsächlich regelmäßig über die großen Linien der Partei mitentscheiden zu lassen, über die Themen, zu denen man sich auch dann eine Meinung bilden kann, wenn man als politische Beobachterin oder Beobachter die Debatten verfolgt. Die Abschaffung der Wehrpflicht, eine grundlegende Reform der Pflege, die Debatte über Sterbehilfe – das wären Chancen gewesen, die gesamte Partei inhaltlich zu beteiligen.
Unter der Überschrift „Demokratie braucht Partei“ legte der damalige Generalsekretär Franz Müntefering 1999 eigene Thesen vor. „Zehn von außen“ – also Quereinsteigern – sollte ebenso der Weg in den Bundestag geebnet werden wie „30 unter 40“, also jüngeren Abgeordneten. Die waren übrigens 1998 locker in den Bundestag eingezogen und sitzen dort vielfach noch heute. Mit dem Wahlergebnis 2017 sind wir von diesem hehren Ziel aber weit entfernt.
Die letzte größere Parteireform im Rahmen der Beck-Kommission um 2005 in Angriff genommen, war eine Reaktion auf die Digitalisierung. Mit eigenen Plattformen wie „meine-spd“, einer Art Facebook für Parteimitglieder, versuchte man Vorreiter zu sein. Alle Bemühungen, die Parteimitglieder auf eigene Plattformen zu bekommen, sind allerdings durch ausgesprochen geringe Anmeldezahlen zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Mitglieder finden eigene Wege, Gliederungen sind bei Facebook präsent, Wahlkampf wird über WhatsApp organisiert. Seit einigen Jahren richtet die SPD ihre Strategie darauf aus, stark auf bestehenden Plattformen unterwegs zu sein und nicht mehr eigenes zu entwickeln. Sie ist im digitalen Zeitalter angekommen.
Real life vs. Virtual life – Das Kernproblem ist kaum lösbar
Der Prozess der Willensbildung von unten nach oben, innerparteiliches Wählen und die Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten sind in Deutschland von den Parteien in ihren Satzungen geregelt, denen das Parteiengesetz aber klare Vorgaben macht.
Zu den Hauptkritikpunkten zählt heute das starre System der Aufstellung und der Wahl von Delegierten in Ortsvereinen bzw. dann auf den weiteren Ebenen (Unterbezirk, Bezirk/Landesbezirk) bis auf die Bundesebene. Unstrittig ist dabei, dass das System durchaus durchlässig ist. So genügt es bereits, die Mehrheit eines Ortsvereins zu haben, um einen inhaltlichen Antrag oder einen Personalvorschlag auf einer der höheren Ebene anzubringen. Es ist doch durchaus bemerkenswert, dass die Mehrheit in einer – bekanntlich oft nicht einmal gut besuchten – Versammlung des Ortsvereins bereits ausreicht, um auf dem Bundesparteitag als Parteivorsitzender kandidieren zu können oder Anträge zum Parteitag zu bringen.
Kritik gibt es vor allem daran, dass es zum Ortsverein, der Anwesenheit zu einem bestimmten Zeitpunkt erfordert, keine virtuelle Alternative gibt, keine Form gemeinsamen inhaltlichen Arbeitens im Netz, keine Tools zum Online abstimmen. Die Debatte darüber ist schon älter und wurde in der Zeit der Generalsekretärin Nahles angestoßen. Sie lotete aus, ob man die kleineren thematischen Arbeitsgemeinschaften zu online arbeitenden Themenforen wandeln könnte, stieß aber auf massiven Widerstand der Arbeitsgemeinschaften. Statt sie auf dem Parteitag 2011 zu ersetzen, beschloss derselbe Parteitag die Einrichtung von drei zusätzlichen Arbeitsgemeinschaften. Mit Verbraucherpolitik wurde ein einziges Themenforum neu eingerichtet, das seitdem zwar arbeitet und eine jährliche Tagung durchführt, die Wahrnehmbarkeitsschwelle aber bislang nicht überschritten hat.
Für die SPD nahezu unlösbar bleibt das Problem, dass der eigentliche Wahlkampf tatsächlich Arbeit und Anwesenheit erfordert. Ob Plakate aufhängen und Material verteilen, ob Infostand oder Gespräche an der Haustür: neben Meinungsstärke in den sozialen Netzwerken braucht die Partei die Zeit ihrer ehrenamtlich Engagierten. Zumindest dann, wenn man auch in Zukunft Mitgliederpartei sein kann und will und nicht nur noch bezahlte Wahlkampfmaschinerie.
Barrieren zur Mitarbeit absenken – das fördert insbesondere Frauen
Knapp 30 Jahre ist es nun her, dass die Frauen in der SPD die Geschlechterquote erkämpft haben. Seitdem müssen mindestens 40% der Positionen mit Frauen besetzt werden, mit Recht haben sich viele Landesverbände heute auf die paritätische Besetzung der Listen verständigt.
Trotzdem fehlt es vielerorts an insbesondere jüngeren Frauen, die sich um Parteifunktionen und öffentliche Ämter bewerben.
Die Annahme, dies läge an der gelebten Kultur in der SPD dürfte stimmen. Richtig ist, dass sich Frauen gelangweilt fühlen von heutigen Barrieren: einer ritualisierten Sitzungskultur, Terminen, die am Vorabend schwer zu schaffen sind, berufliche Belange, Pendelei und Familie unter einen Hut bekommen werden müssen. Doch all dies betrifft genauso auch Männer. Des Rätsels Lösung ist ein rein mathematisches. In einer Partei, in der nur ein Drittel der Mitglieder weiblich ist, bleiben immer mehr Männer übrig. Selbst dann, wenn sich genauso viele Frauen wie Männer entscheiden, sich nicht aktiv an der Parteiarbeit zu beteiligen.
Ziel muss es also sein, die Mitwirkung in der Partei attraktiver zu machen. Formalismen abbauen, unterschiedliche Veranstaltungs-konzepte auszuprobieren, für mehr Abwechslung durch alternierende Moderation von Sitzungen, verlässliche Anfangs- und vor allem Endzeiten festlegen, eine ordentliche Diskussionskultur etablieren mit quotierten Redelisten und ohne Endlosbeiträge, feste Verabredungen treffen und zu leistende Arbeit in handhabbare Pakete aufteilen – all dies sind sinnvolle Maßnahmen, die dazu führen können, dass Parteiarbeit auch Spaß macht.
Eine mangelnde Dankeschön-Kultur, die unangenehme Situation, dass denen, die bereit sind, Zeit zu investieren, immer mehr Ehrenamtliches aufgedrückt wird und innerparteiliche Verfahren, die diejenigen besonders stärken, die stetig präsent sein können, tun das Übrige, um Parteimitglieder in die politische Passivität zu entlassen.
Mit Mentoring-Programmen und Patenschaften für den Einstieg in die Partei, familienfreundlicher Bildungsarbeit (warum nicht auch mal Mutter oder Vater/Kind-Angebote), Kinderbetreuung bei größeren Parteiterminen lässt sich der Einstieg und der Wiedereinstieg in die politische Arbeit erleichtern.
Mutlose Zielgruppenansprache
Seit Jahrzehnten ist die SPD zudem dem Irrtum erlegen, mit dem System ihrer Arbeitsgemeinschaften breit in die Gesellschaft wirken zu können und Menschen an die Partei binden oder langfristig in die Partei führen zu können. Während die Union das (ähnlich wie die Sozialdemokraten in Österreich) in Form von eigenen Organisationen tut, die sich in der Regel als Vereine ausgegründet haben (etwa Seniorenunion oder Mittelstands-vereinigung), die eigene Beiträge erheben, um Spenden und eigene Mitglieder werben, eigenes Personal haben, sind die Arbeitsgemeinschaften „unselbstständig“ innerhalb der SPD, führen keine eigenen Kassen und werden aus den Beiträgen aller Mitglieder finanziert. Bequem ist dabei vor allem, dass die Mitglieder fast allen automatisch zugeführt werden (alle Frauen in die ASF, alle über 60 zu 60plus, alle unter 35 zu den Jusos). An der Mitgliederzahl bemisst sich der Einfluss innerhalb der Partei, deshalb gibt es insbesondere bei den großen Arbeitsgemeinschaften keinerlei Interesse, das System zu verändern.
Ein Konstruktionsfehler, der am Ende dazu führt, dass die Arbeitsgemeinschaften in erster Linie sich selbst innerhalb der SPD-Strukturen vertreten, aus ihrer Größe und Existenz den Anspruch auf Mandate, Listenplätze und Funktionen innerhalb der Partei ableiten und erst in zweiter Linie Ansprechpartner und Verbindung in die entsprechenden Zielgruppen hinein sind. Der Mut, Vereine zu gründen, eigene Mitglieder zu werben und selbstständiger in die Gesellschaft hinein zu agieren, fehlt.
Der Pensionistenverband, die der SPÖ nahestehende Organisationen der Älteren innerhalb und außerhalb der Partei hat übrigens doppelt so viele Mitglieder wie die „Mutterpartei.“ Es könnte also durchaus gelingen, die Schlagkraft in die Gesellschaft hinein zu erhöhen.
Ohne organisatorisch, finanziell und personell stärkere Arbeitsgemeinschaften, die sich in neuer Struktur weit ins politische Vorfeld hinein vernetzen und darin ihre Hauptaufgabe sehen, kann die SPD das Ohr nicht mehr als Puls der Zeit haben. Dabei geht es keineswegs darum, die Arbeitsgemeinschaften der SPD, die die Hauptlast in Wahlkämpfen leisten wie z.B. die Jusos oder die AG 60plus, oder Arbeitsgemeinschaften, die für unseren inhaltlichen Markenkern stehen aufzulösen. Wenn man sie dagegen organisatorisch stärkt, ihnen die Chance gibt, eigene Beiträge zu erheben, um Spenden zu werben und eigenes Personal zu haben, werden sie schlagkräftiger. Der Sozialdemokratie nahestehende Bürger, die aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht in die SPD eintreten wollen, könnten über externe Arbeitsgemeinschaften wie z.B. eine Mittelstands-AG oder Gerechtigkeits-AG enger an uns gebunden werden.
Immer Ärger mit dem Osten?
Wie bereits angeklungen, sind die Wahlergebnisse im Osten auf einem absoluten Tiefpunkt angekommen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Schaut man auf die Jahre 1998 bis 2005, stellt man erstaunt fest, dass die Lage auch schon besser war. Jedenfalls geht die Argumentation fehl, es ginge der SPD im Osten Deutschlands so schlecht, weil man keine SED-Mitläufer aufgenommen habe. In allen ostdeutschen Ländern hat die SPD bereits Regierungsverantwortung übernommen, mit Ausnahme von Thüringen und Sachsen auch führend. In allen ostdeutschen Bundesländern wurden Bundestagswahlkreise gewonnen. Sicher scheint aber zu sein, dass bei einer in den ostdeutschen Ländern niedriger ausgeprägten Parteiidentifikation und damit verbunden niedrigen Zahlen an Stammwählerinnen und –wählern die Persönlichkeit der Kandidatinnen und Kandidaten eine wichtigere Rolle spielt. Die Ergebnisse von Kohl, Schröder, Merkel aber auch Biedenkopf, Stolpe, Platzeck oder Wowereit belegen das.
In seiner Analyse der Bundestagswahlen 2017 kommt der Berliner Parteivize Mark Rackles zu dem Schluss, man müsse das „Schisma“ zwischen SPD und Linken überwinden, um gemeinsam stärker zu werden. Dazu schlägt er auch Absprachen in den Wahlkreisen vor, wo dann jeweils entweder nur die SPD oder die Linke Kandidaten nominieren solle. Abgesehen davon, dass das System von Überhang- und Ausgleichsmandaten Nachteile in den Direktwahlkreisen ausgleicht: solche Absprachen sind nach unserer Auffassung abzulehnen, denn die SPD gibt sich damit als Volkspartei auf.
Solange die Partei Die Linke im Westen Deutschlands im Wesentlichen aus SPD-Hassern besteht, diese Gruppe im Bundestag noch dazu stärker vertreten ist, als die realpolitisch orientierte Linke der ostdeutschen Bundesländer, macht es mehr Sinn, mit erfolgreichen Landesregierungen eine langfristige Basis zu schaffen, um ggf. einmal gemeinsam im Bund zu regieren. Wenn man sich im Übrigen den Altersdurchschnitt der Partei Die Linke anschaut und den im Vergleich zur SPD geringen Zulauf an neuen Mitgliedern sollten wir uns hüten, deren Parteireformen direkt mit zu erledigen.
Dem Osten aufs Maul schauen und in die Herzen hören …
Eine Partei, die im Wesentlichen von Mandatsträgern aus den alten Bundesländern geprägt ist, kann die Sprache der Ostdeutschen nicht sprechen. Manchmal wird man das Gefühl nicht los, sie wolle die Sprache der Ostdeutschen nicht sprechen. Denn solange die Partei im Osten deutlich schlechter abschneidet als im Westen Deutschland, behalten die Mandats- und Amtsträger ihre Posten ohne lästige Konkurrenz aus dem Osten.
Stattdessen müsste die Parteispitze auf die ostdeutsche Bevölkerung als Wählergruppe besonderes Augenmerk legen – im Bund wie auch in Berlin. Klaus Wowereit hat deutlich gezeigt, wie man Wahlen gewinnt: mit einem starken Ergebnis im Ostteil der Stadt konnte die SPD die Wahlen in Berlin 2006 mit 27,5% und 2011 mit 28,4% gewinnen. Es war die SPD mit Willy Brandt, der die Ära der Entspannungspolitik zwischen den damals getrennten Staaten einleitete. Deshalb ist es mehr als irritierend, dass die SPD sich in den letzten Jahren nicht den drängenden Bedürfnissen der ostdeutschen Wähler angenommen hat: weniger Lohn für gleiche Arbeit, eine geringere Rente als im Westen, immer weiter steigende Mieten, unsanierte Straßen und Schulen. Es ist die Aufgabe der SPD, den Menschen im Osten „auf’s Maul zu schauen“ und in die Herzen zu hören. Dies gelingt glaubwürdig nur mit Politikern, die den Osten verstehen: Regine Hildebrandt war eine dieser Menschen, die den Osten verstanden: klar in der Aussprache – auch von Problemen – und immer auf der Suche nach einer Lösung. Anstelle von politischen Ausreden, warum die Lebensbedingungen im Osten geringere Löhne, Renten oder Wertschätzung rechtfertigen.
Viele Mitglieder – aber wenig damit anzufangen …
Erfreulicherweise erfreut sich die SPD, nicht zuletzt in Berlin, regen Zulaufs bei neuen Mitgliedern. Zu den großen Problemen gehört aber, dass sie in den Strukturen der SPD weitgehend allein gelassen werden. In den gut funktionierenden Ortsvereinen bzw. Abteilungen mit direkter Ansprache und einem bunten Strauß an Veranstaltungen und Mitmachmöglichkeiten kann das aufgefangen werden.
Aber: zu viele neue Mitglieder landen in ehrenamtlichen Strukturen, die sich zu selten treffen oder die nicht auf das thematische Interesse stoßen. Jenseits regelmäßiger Neumitgliedertreffen aus Landesebene, zu denen neue Mitglieder genau einmal eingeladen werden, braucht es Strukturen, in denen neue Mitglieder an das vielfältige Angebot der Partei herangeführt werden. Das muss in erster Linie ein gutes Angebot an Bildungs- und Diskussionsveranstaltungen sein. Neumitgliederseminare, Einstieg in Rhetorik und in die grundlegenden politischen Kenntnisse, Zeitmanagement und Projektplanung – so kann die SPD neue Mitglieder, die sich über die Zahlung eines Beitrages hinaus auch mit Zeit einbringen wollen, an die Partei heranführen und im Übrigen auch Ängste nehmen, in einer starr wirkenden Partei mitzuarbeiten.
Ziel muss eine Partei sein, die es akzeptiert, wenn Mitglieder „passiv“ durch Zahlung ihres Beitrags Solidarität zeigen.
Aber die es fördert, wenn Mitglieder „aktiv“ mitmachen wollen und in der sich Haupt- und Ehrenamtliche darum kümmern, neuen Mitgliedern den Einstieg in die politische Arbeit so leicht wie möglich zu machen. Das gilt im Übrigen auch für den Umzug von Mitgliedern. Eine Übergabe von politischen Talenten und versierten Mitgliedern, die nach einem Umzug in einem neuen Umfeld ankommen, erfolgt oft genug nicht, obwohl es doch selbstverständlich sein müssen, bisherigen Vorstandsmitgliedern oder Mandatsträge-rinnen eine Fortsetzung ihrer Arbeit anzutragen. Zu oft ist die Erwartung, die sprichwörtliche „Ochsentour“ dann neu zu beginnen. Die Ideen und die Arbeitskraft ehemals aktiver Mitglieder geht so vielfach verloren.
Klare Linien bei den Inhalten fehlen
Inhaltlich krankt die SPD noch immer an ihrer Diskussion um das Für und Wider der Agenda 2010. Die einen fordern eine radikale Abkehr, die anderen mehr Selbstbewusstsein, die Agenda als Grundlage für einen mehr als ein Jahrzehnt andauernden wirtschaftlichen Aufschwung mit mehr Stolz zu verkaufen. Eine Partei, die im Jahr 2017 aber immer noch die über 15 Jahre alten Debatten aufwärmt, statt einen Weg ins Jahr 2030 oder wenigstens 2020 zu beschreiben, überlebt sich zusehends.
Insbesondere in Berlin erleben wir aber auch eine weitgehende Angleichung der Programmatik an Linke und Grüne, die eine Zuweisung von Kompetenzen an die SPD schwierig macht. Nein, es spricht nichts dagegen in öffentlichen Gebäuden Toiletten einzuführen, die von Menschen jeden Geschlechts genutzt werden können. Warum auch nicht: hat jeder zuhause, gibt es in jedem Zug und jedem Flugzeug. Nein, es spricht auch nichts dagegen, sexistische Werbung zu verbieten und auch nichts gegen Urban Gardening. Aber: müssen diese Themen als die Schlüssel- und Herzensthemen der SPD wahrgenommen werden, wenn Bildung, Mieten und innere Sicherheit die Menschen weit mehr bewegen?
Diese Themen lagen auch im Bundestagswahlkampf auf der Hand, sie sind auch angeklungen, aber leider nicht konsequent forciert worden. Teils, weil keine großen Würfe gelungen sind, teils weil die Konzepte zu kompliziert waren, teils weil alle paar Tage etwas Neues auf den Markt geworfen wurde.
Ein solidarisches Rentensystem
Warum nicht ein neues und einfaches Rentensystem, mit dem man künftige Beamtinnen und Beamten ins System integriert, ohne an Besitzstände zu gehen? Wo ist der Mut, eine echte Solidarrente nach österreichischem Vorbild einzuführen? Wer lange gearbeitet hat, soll nicht zum Sozialamt und zum Wohnungsamt müssen, um sich nötiges Geld zusammen zu holen. Wie glaubwürdig ist eigentlich eine Partei, in der zwar Debatten über ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle geführt werden können, die sich aber nicht zutraut, eine echte Solidarrente in Höhe von 1300 Euro in ihr Programm zu schreiben?
Ein gerechtes Steuersystem
Wie glaubwürdig ist eine SPD, die zwar bessere Renten, gebührenfreie Bildung und mehr Investitionen in die Pflege in Aussicht stellt, auf die Frage nach der Finanzierung eines verbesserten Sozialstaats aber mutlos ist? Es braucht eine höhere Besteuerung großer Erbschaften, eine Vermögenssteuer und ggf. auch wieder eine leichte Anhebung der Lohn- und Einkommenssteuer. Zu Kohls Zeiten lagen die Steuersätze zwischen knapp 26 und 53 Prozent, heute bei 15 bis 42 Prozent. Wenn es gelingt, die großen Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Alter und Pflege gut abzusichern, dann sind auch höhere Steuern vermittelbar. Erst recht für die, die nicht mehr selbst arbeiten, sondern nur Geld arbeiten lassen.
Ein gutes und gebührenfreies Bildungssystem
Dass es von der Farbe der Landesregierung oder der finanziellen Lage der Kommune abhängig ist, ob Eltern jeden Monat Hunderte Euro an Kitagebühren aufbringen müssen, ist eines der reichsten Länder der Welt nicht würdig. Es lohnt sich, glaubwürdig für einen gesellschaftlichen Konsens – der auch ein Konsens der großen Parteien werden muss – zu kämpfen, Bildung gebührenfrei anzubieten. Kita, Schule, Studium – aber eben auch die Ausbildung zum Meister, an Schulen für Heilerziehung oder Altenpflege. Gute Bildung und Ausbildung gebührenfrei, mit „Rückzahlungen“ in einem gerechten Steuersystem – das findet auch Akzeptanz.
Den Dienst am Menschen angemessen würdigen
Wir wissen, dass unsere Gesellschaft älter wird und dass nach langen und erfüllten Leben die Wahrscheinlichkeit größer wird, in der letzten Lebensphase auf Unterstützung angewiesen zu sein. Wir müssen den Dienst am Menschen, in der Kranken- und Altenpflege, der Sozialarbeit, aber auch als Erzieherin oder Erzieher attraktiver machen. Auch hier durch gebührenfreie Ausbildung, sichere Arbeitsverhältnisse und bessere Bezahlung. Aber auch durch unterstützende Berufsbilder im nichtakademischen Bereich, also einen echten sozialen Arbeitsmarkt, der den Dienst am Menschen unterstützt.
Endlich die Bürgerversicherung umsetzen
Programmatisch und auch von der Bevölkerung als gerecht empfunden fordern wir seit Jahren die Einführung der Bürgersicherung. Nur setzen wir diese nicht um, gehen keine glaubwürdigen Schritte, um diese einzuführen. Dabei hatten wir in unseren Regierungszeiten ausreichend Zeit dafür. Stattdessen scheint es so, dass wir das Thema gerne im Wahlkampf aufwärmen, um es uns dann in Koalitionsverhandlungen abverhandeln zu lassen. Gerade in der Zusammenschau mit einem Ansatz für ein Steuer- und dem Pflegesystem ist die Bürgerversicherung der richtige Baustein für eine gerechte Gesellschaft.
Innere Sicherheit zu einem Herzensanliegen machen
Welche Partei ist eigentlich die Heimat derjenigen, die nicht jeden kleinen Kriminellen sofort in den Kerker werfen bzw. abschieben wollen – und trotzdem am Görlitzer Park in Berlin nicht neunzehnmal in einer Viertelstunde von Dealern nach dem aktuellen Bedarf an Suchtmitteln angesprochen werden wollen?
Wie glaubwürdig ist die SPD eigentlich in wichtigen Zielgruppen, wenn sie das Themenfeld der klassischen inneren Sicherheit über einen so langen Zeitraum vernachlässigt? Natürlich muss man nicht jedes Instrument an jeder Stelle einsetzen, erst recht übrigens nicht die Videoüberwachung. Sie aber gezielt dort einzusetzen, wo täglich Kriminalität geschieht und gleichzeitig Polizei auszubauen und zu befähigen, Videotechnik als Instrument der Aufklärung und Beweissicherung einzusetzen, wäre eine Kernaufgabe sozialdemokratischer Innenpolitik. Im Übrigen gilt es, denjenigen, die sich bei Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten täglich einsetzen, solidarisch den Rücken zu stärken.
Wer sich außerhalb unserer Gesetze bewegt, braucht Druck. Durch eine effiziente und gut ausgestattete Polizei, starke Ermittlungsbehörden und eine schnelle Justiz. Gerade eine liberale Gesellschaft muss die Möglichkeiten haben, diese Liberalität auch zu verteidigen.
Zweifelsohne würden sogar mehr Themen auf der Hand liegen. Doch eines der großen Probleme der SPD ist, dass sie inmitten der vielen Themen, die von ihren Mitgliedern leidenschaftlich bearbeitet werden, nicht mehr wahrgenommen wird. Die SPD ist großartig, wenn mit guter Vorbereitung in Sitzungen um Formulierungen gerungen, wenn leidenschaftlich debattiert wird. Aber müssen die Vertreterinnen und Vertreter jeweiliger Themenfelder so eitel sein, immer stets das eigene Thema als das wichtigste zu begreifen?
In der SPD gibt es keinen Mangel an Beschlüssen. Viele tausend Anträge werden auf den Parteitagen beraten, beschlossen und nach und nach im politischen Handeln umgesetzt. Und das ist gut so. Aber muss ein Bundestagswahlprogramm mehr als Hundert klein beschriebene Seiten haben? Im Sommer hatte Martin Schulz sein Programm vorgestellt, einen erfreulich kurzen Entwurf, einigermaßen lesbar und doch für den Durchschnittskonsumenten ziemlich kompliziert. Wenige Tage später lagen 900 Seiten Änderungsanträge auf dem Tisch, aus denen es dann viele, sehr viele Spiegelstriche ins SPD-Wahlprogramm schafften, schon um keine zu langen Debatten auf dem Parteitag zu provozieren.
Manchmal wäre einfach auch weniger mehr.
Für eine moderne und zukunftsfähige SPD: Packen wir es an, erfinden wir uns neu.
Wir wollen mit diesem Papier und unseren Überlegungen eine ehrliche Debatte über den Zustand und die Zukunft unserer Partei anstoßen. Die SPD ist unsere politische Heimat und soll es noch lange bleiben. Deshalb schmerzt es uns umso mehr, dass eine Aufarbeitung der Wahlniederlagen und Neujustierung unserer politischen Ziele so schwerfällig ist oder gar nicht erfolgt.
Wir wissen, dass unser Papier auch den typischen Reflex hervorrufen wird. Die Nestbeschmutzer, die öffentlich Papiere schreiben, anstatt dies in den Gremien zu besprechen. Diesen sagen wir: Wir wollen nicht im Hinterzimmer die Niederlage personell und programmatisch auskungeln und alles bleibt wie es ist. Eine der größten Errungenschaften unserer Demokratie ist das Recht auf Meinungsäußerung: öffentlich und hörbar.
Das muss nicht allen gefallen, auch nicht in einer Partei. Wir müssen uns für öffentliche Debatten über den richtigen Weg für die SPD nicht schämen. Dies kann vielmehr ein deutliches Zeichen an unsere Wähler sein:
Wir haben tatsächlich verstanden.
Edit: Unser Beitrag fand auch mediale Aufmerksamkeit u.a.
6 Antworten
Klaus Adler
Lieber Dennis,
sehr genau,manchmal 2 mal habe ich den Beitrag gelesen und auch über vieles nachgedacht.Persönliche Ansprüche bin ich nicht immer nach meinen Vorstellungen konsequent nachgegangen.
Was mich oft störte,war die Arroganz ob bei der KDV oder anderen Gelegenheiten das abgehoben sein gegenüber Genossen*Innen die nicht die politische Korrektheit Rhetorisch zum Ausdruck gebracht haben oder bringen konnten.
Leider,kann ich Dir den Vorwurf nicht ersparen auch Du hast zum erheblichen Teil an mancher Frustration bei mir beigetragen.Entweder, mit Ignorieren oder Weglächeln.
Umso erstaunlicher dein Beitrag mit Sven der Impulse freisetzt und letztlich dahin führen kann wofür wir Sozialdemokraten sein wollen.
Ich,hoffe das trifft nicht nur für meine Person zu unsere Werte die WIR Leben gepaart mit politischer vorausschau und Lebenserfahrung bringt uns menschlich und für unsere Partei wieder in die richtige Spur.
Gelegenheiten,wird es bestimmt auf den unterschiedlichen Ebenen geben.
Solidarische Grüße
Klaus
Julia
Danke Dennis!
Hannes
Ein längst notwendiger Anstoß, der mit viel Verstand und Herz die Problematik eines arrogant fahrlässigen Stillstands in der Parteienlandschaft – und hier in der SPD – beschreibt. Mut, Pragmatismus, Offensive, Charme, Intelligenz, Bodenständigkeit … und ein besseres Gefühl für den Nerv der Zeit – dieser Artikel zeigt, dass es zwei Abgeordnete verstanden haben, dass das JETZT nicht das
MORGEN sein kann! Danke Dennis
Wolfgang Markytan
Respekt für die großartige Leistung und den Mut, diese Erlebnisse und Erfahrungen so zusammen zu fassen. Viele unserer “Diskussionen” sehe ich darin wider. Mir ist zusätzlich noch wichtig festzuhalten, “welchen Anteil jeder selbst daran trägt”.
Mit freundschaftlichen Grüßen aus dem Roten Wien
Henry
Sehr richtig, Danke für die Klarheit, Konsequenz und die vielen Anstöße. Überzeugende Führungspersönlichkeiten und ein Aufbrechen der thematischen Verengung auf Verteilungsgerechtigkeit tun Not. Ich wünsche viel positive Resonanz und Unterstützung!
Dennis Buchner
An dieser Stelle besten Dank für eure Kommentare und eure Unterstützung!
Lieber Klaus,
auch an dieser Stelle noch einmal: Danke für deinen Kommentar. Zu den Punkten habe ich dir eine E-Mail geschrieben.
Beste Grüße
Euer Dennis Buchner