Ich entstamme wahrhaft keiner besonders politischen Familie. Dass ich schon früh zur SPD tendierte, ist am ehesten meiner Großmutter zu verdanken, die in der Nachkriegszeit vor allem durch harte Arbeit vier Kinder allein großzog und bis zum Schluss Mitglied der IG Metall war. Ihre Botschaft an mich als damals Sechsjährigen, als ich sie zu einer Bundestags- oder Landtagswahl ins Wahllokal begleitete: Selbstverständlich kann man nur die SPD wählen, die als einzige Partei etwas für die kleinen Leute mache. Aus ihrer Sicht waren die kleinen Leute vermutlich „normale“ Leute.
Mit 13 oder 14 engagierte ich mich in der Schüler*innen-Vertretung meiner Schule und kam im Stadtschülerparlament erstmals auch mit den Jusos in Berührung, fast alle einige Jahre älter. Das meiste, über das die redeten, verstand ich nicht oder ich hatte nicht im Geringsten damit zu tun. Und so ging ich nicht wieder hin.
Immer wieder besuchte ich in dieser Zeit Wahlkampfveranstaltungen in Lübeck, erlebte Willy Brandt, Oskar Lafontaine, Johannes Rau oder Rudolf Scharping. Eine Woche vor meinem 19. Geburtstag wurde in Schleswig-Holstein gewählt und ich besuchte die Wahlparty der SPD, die mit Heide Simonis gewann. In den drei oder vier Stunden, die ich vor Ort war, beachtete mich absolut niemand, sprach mich niemand an, versuchte niemand, mich in die SPD zu integrieren.
Insofern ist es schon überraschend, dass ich mich nach dem Umzug aus Lübeck exakt an meinem 21. Geburtstag in Bonn zum Beitritt in die SPD entschlossen habe. Dort gab es Menschen, die ein Interesse hatten, junge Leute zu integrieren und solche, die mich gefördert haben, sonst wäre ich vermutlich in der SPD und durch die SPD nicht so weit gekommen.
In den letzten Tagen musste ich öfter an mein erstes Jahr in der SPD denken. 1998 – ein Bundestagswahljahr. An Wechselstimmung, an Einsatzbereitschaft, an lange Abende. Und an Gespräche mit Erich und Isolde, mit Adi, Gerd oder Marianne im SPD-Ortsverein und an ebenso lange Nächte mit Clemens und Cordula, Mirco, Jan oder Julia bei den Jusos. Tolle Menschen, unterschiedliche Lebensbiografien und Weltsichten. Ich traf Handwerker und Bankangestellte, Lehrerinnen und viele aktuelle und damals amtierende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter politischer Größen im Ortsverein. Bei den Jusos dagegen gab es noch unterschiedliche Herkünfte und Ansichten, allerdings kaum noch jemanden, der nicht studierte. Für SPD wie Jusos galt: man traf sich oft direkt in der Kneipe, ging aber in der Regel zumindest hinterher noch auf ein paar Bier dorthin, lernte sich kennen, diskutierte politisch. Alle wollten gern Recht haben, vor allem aber hatte man Spaß an der politischen Debatte und viele Freundschaften sind – mindestens lose – bis heute geblieben.
Am Ende des Wahljahres 1998 stand ein grandioser Wahlerfolg. Nach 16 bleiernen Jahren schwarz-gelb übernahm rot-grün mit wahrhaft progressiver Politik. Der mit der Energiewirtschaft vereinbarte Atomausstieg, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, deutliche Verbesserungen des Mietrechts und das sogenannte „Lebenspartnerschaftsgesetz“ fielen in diesen Zeitraum, der aber viel stärker gekennzeichnet war durch Sozialreformen, auf deren Verschärfungen die über den Bundesrat stark mitregierende Union bestand.
Die Mehrheit im Bundesrat ging im Frühjahr 1999 verloren. Im Zuge der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft sammelte zunächst die hessische, dann die gesamte, CDU Unterschriften dagegen. „Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben,“ hieß es zehntausendfach an den Ständen der CDU. Und am SPD-Infostand kam ich zum ersten Mal mit dem Begriff „normale Menschen“ in Berührung. Dass die doppelte Staatsbürgerschaft niemandem etwas wegnehme, sei egal: „Wir normalen Menschen wollen das nicht.“
Die SPD ist in ihrer Geschichte immer fortschrittlich gewesen. Die Welt so nehmen, wie sie ist, aber sie nicht so lassen zu wollen, das ist die Kernidee progressiver Politik.
Als die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert 1949 als eine der nur vier Frauen, die das Grundgesetz erarbeiteten, die Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ durchsetzte, war diese Erkenntnis nicht die Haltung der „normalen“ Leute. Nicht umsonst dauerte es fast zehn weitere Jahre, bis auch ein Gleichberechtigungsgesetz im Bundestag verabschiedet wurde. Die Debatten um den §218, um die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, um Frauenquoten in Parteien und Unternehmen zeigen immer wieder, dass politischer Fortschritt nicht von allein kommt, sondern im Zweifel auch gegen „normale“ Leute durchgesetzt werden muss.
Noch in den fünfziger Jahren forderten im Umfragen 55% die Wiedereinführung der Todesstrafe. Damals „normale“ Leute, heute nur noch eine radikale Minderheit von etwa 25%?
Es waren Sozialdemokratinnen wie Margot von Renesse und Herta Däubler-Gmelin die sich auch gegen den Widerstand vermeintlich „normaler“ Leute für die Rechte von Lesben und Schwulen stark gemacht haben und so den Weg zur Gleichberechtigung geebnet haben.
Und auch der Einsatz für die Belange von Menschen mit Behinderungen und die Rechte der „Ausländer“, wie es damals hieß, nahm seinen Anfang in der deutschen Sozialdemokratie. Einer Sozialdemokratie, die immer dann besonders stark war, wenn es ihr gelang, neue soziale Bewegungen aufzunehmen und ihnen Schritt für Schritt zum politischen Erfolg zu verhelfen.
Auch 2021 engagieren sich Aktivistinnen und Aktivisten in der SPD. Für „Fridays for Future“, „Pulse of Europe“, für modernen Feminismus, für eine inklusive Gesellschaft und auch weiterhin für queere Communities. Nur die fortwährende programmatische Weiterentwicklung wird dafür sorgen können, dass die SPD ihren 157 Jahren Geschichte weitere Jahre hinzufügt. Ich bin froh darüber und sehr stolz darauf, dass sich mit der SPD Menschen identifizieren, die “ihr” Herzensthema mitbringen und sich im Rahmen unserer Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität einbringen.
Wenn die SPD Volkspartei bleiben oder wieder werden will, dann braucht es Raum für eine respektvolle Debatte, die zu programmatischer Weiterentwicklung führt. Debatte ist dabei übrigens mehr, als als prominente Sozialdemokratin oder prominenter Sozialdemokrat einen schriftlichen Beitrag zu veröffentlichen und sich dann in der Zustimmung vermeintlich „normaler“ Leute zu sonnen, die zumindest in Teilen mit denen übereinstimmen dürften, die Thilo Sarrazin ihre Verehrung entgegengebracht haben. Und gerade weil ich Wolfgang Thierse und seine klare Haltung gegen rechts kenne, wundert mich die Freude darüber.
2017 habe ich mit meinem Kollegen Sven Kohlmeier in dem Aufsatz „Nicht mehr auf der Höhe der Zeit“ folgendes geschrieben: „Insbesondere in Berlin erleben wir aber auch eine weitgehende Angleichung der Programmatik an Linke und Grüne, die eine Zuweisung von Kompetenzen an die SPD schwierig macht. Nein, es spricht nichts dagegen in öffentlichen Gebäuden Toiletten einzuführen, die von Menschen jeden Geschlechts genutzt werden können. Warum auch nicht: hat jeder zuhause, gibt es in jedem Zug und jedem Flugzeug. Nein, es spricht auch nichts dagegen, sexistische Werbung zu verbieten und auch nichts gegen Urban Gardening. Aber: müssen diese Themen als die Schlüssel- und Herzensthemen der SPD wahrgenommen werden, wenn Bildung, Mieten und innere Sicherheit die Menschen weit mehr bewegen?“
So sehe ich es auch noch heute. Die SPD muss sich programmatisch weiterentwickeln, die Fortschrittsdebatte bestimmen, soziale Bewegungen aufnehmen und dabei trotzdem dafür sorgen, dass die drei „Bestseller“ des politischen Gemischtwarenladens einer Volkspartei von jeder Wählerin und jedem Wähler aufgesagt werden können. Wenn wir das Ziel aufgeben, das Leben jedes einzelnen Menschen besser zu machen, dann geben wir die SPD auf.
„Normal“ ist jedenfalls keine Kategorie des politischen Handelns.
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